Viele herzzerreißende Schicksale
Karin Prignitz
Helga Eckert von der Caritas Konferenz St. Anna (l.) und Margret Lütkebohle vom Droste-Haus freuen sich ganz besonders über den Besuch von Hamid Naghashi, der im Sprachcafé wichtige Hilfe erfahren hat.Karin Prignitz/ Neue Westfälische
Verl. "Im Garten ist viel zu tun", sagt Hamid Naghashi - und schnell wird deutlich, dass
der gebürtige Iraner in denvergangenen zehn Jahren bereits einige deutsche Tugenden verinnerlicht
hat. Der 38-Jährige gehört im Pfarrzentrum zu den rund 100 Geburtstagsgästen des Sprachcafés. Wie so viele andere, die gekommen sind, ist auch er ungemein dankbar für die wichtige Hilfe, die er dort
erhalten hat.
"Selbst meine Arbeit habe ich durch das Sprachcafé gefunden", erzählt Hamid Naghashi,
der seit November 2015 in Verl lebt. Im Iran hat er studiert, seit acht Jahren arbeitet er bei Beckhoff Automation und kann das familiäre Klima dort gar nicht genug loben. Seine deutsche Freundin hat er
in einem Fitnessstudio kennengelernt, beide leben zusammen. Die Familie im Iran hat Naghashi seit zehn Jahren nicht gesehen, er vermisst sie, "aber in Verl habe ich eine zweite Heimat gefunden" und
seit vier Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit.
So wie ihn haben die Angst vor Abschiebung, die Erlebnisse von Krieg und Verfolgung viele hier lange begleitet. Umso dankbarer sind die
Geflüchteten, von denen so viele mittlerweile gut integriert sind, über die Hilfe der ehrenamtlich Tätigen im Sprachcafé.
"Hier lernen sie miteinander und voneinander"
Adla Mourad und Bohan Ibrahim leben seit zehn Jahren in Verl.Karin Prignitz/ Neue Westfälische
Seit zehn Jahren wird das Sprachcafé von der Caritas Konferenz St. Anna und dem Droste-Haus organisiert. Menschen mit Fluchterfahrung aus vielen verschiedenen Ländern, unter anderem
aus dem Iran, Syrien, Bangladesch, Ghana, der Türkei, Afghanistan, der Ukraine, Eritrea, dem Irak, Russland, der Mongolei und Rumänien treffen sich dort. "Hier lernen sie miteinander und voneinander,
knüpfen Freundschaften, übendie deutsche Spracheund finden ein Stück Heimat", berichtet
Margret Lütkebohle von einem gewinnbringenden Miteinander.
Manche Teilnehmer sind von Anfang an dabei, andere erst seit Kurzem. "Aber alle verbindet der Wunsch nach Begegnung, Verständigung und einem respektvollen Miteinander." Manchmal, das erzählt
auch HelgaEckert, sei der Raum voll mit 60 bis 70 Leuten. "Im Durchschnitt", ergänzt
Margret Lütkebohle, "lernen wir 50 neue Menschen pro Jahr kennen." Woher sie kommen, das spielt keine Rolle, das Angebot ist freiwillig.
"Alle bringen ihre Konflikte mit", sagt Helga Eckert und verweist auf "viele herzzerreißende Schicksale". Dazu gehört sicherlich das von Bohan Ibrahim, der mit einer Langhalslaute (Tanbur)unterhält, und seiner Frau Adla Mourad. Als Kind und noch biszum13. Lebensjahr war der Vater eines heute 19 Jahre alten
Sohnes aufgrund seiner Behinderung auf Händen gelaufen, ehe sein Vater einen
Rollstuhl organisieren konnte.
Das Sprachcafé hat das syrische Paar direktnachderAnkunft in Verl besucht. Ebenso wie Marzya und Zabi Islami aus Afghanistan, die zu den ersten Flüchtlingsfamilien gehörten. Die beiden älteren
Töchter (15 und 12) besuchen das Gymnasium, die Jüngere (8) die Grundschule, der Sohn (4) geht in die Kita. "Seit AnfangdiesesJahreshabenwir die deutsche Staatsbürgerschaft", erzählt Marzya Islami,
deren Geschichte durchaus ungewöhnlich ist.
Aufgrund von Krieg und Vertreibung hat die 36-Jährige nie Gelegenheit gehabt, eine Schule zu besuchen. Iran, Türkei, Rumänien, Deutschland, das war der Fluchtweg. Im Verler Sprachcafé lernte die
Familie Ingrid O’ Connor kennen. Sie half bei bürokratischen Hürden und wurde zur Ersatzoma. "Sie hatunsviel gegeben, jetzt geben wir ihr etwas zurück", erzählt Marzya Islami von ihrer Hilfe für die
mittlerweile 90-Jährige.
Marzya und Zabi Islami aus Afghanistan haben seit Anfang 2025 die deutsche Staatsbürgerschaft und können von einer Erfolgsgeschichte berichten. Zu den vier Kindern gehört die achtjährige Arina.Karin Prignitz/ Neue Westfälische
Trotz der fehlenden Schulbildung lernte die Vierfachmutter besonders schnell die deutsche Sprache, sie bestand den Hauptschulabschluss. Seit acht Jahren hat sie den Führerschein und in der Gaststätte
Venne Arbeit. Zwei Tage vor der Bundestagswahl bekam das Paar den deutschen Pass. Für Marzy Islami ging damit ein lang gehegter Traum in Erfüllung, denn "ich habe mir immer gewünscht, einmal
wählen zu dürfen". Das habe sie als absolutes Privileg empfunden.
60 Erwachsene und 30 Kinder sind zur Jubiläumsfeier angemeldet, andere kommen überraschend hinzu."Werwar schon vor zehn Jahren hier?", möchte Margret Lütkebohle, die von allen so herzlich begrüßt wird, wissen und 20 Hände zeigen nach oben. Der Abend im Pfarrzentrum ähnelt
einer großen Familienfeier. "Wir haben so viel zusammen erlebt", sagt Helga Eckert, "und sind in dieser Zeit zusammengewachsen."
Das gilt auch für Wahedi Gulamfaroq und seine Familie. Er ist beim großen Treffen als DJ für die Musik zuständig und blickt ebenso wie alle anderen mit großer Dankbarkeit auf zehn Jahre in Verl zurück. Aus der am runden Tisch entstandenen Idee des Sprachcafés sei ein fester Ankerpunkt geworden, lobt
der stellvertretende Bürgermeister Matthias Humpert und hebt hervor: "Das Herz des Sprachcafés sind die Ehrenamtlichen."
Quelle: Neue Westfälische, 19.11.2025